Shy Abadys Darstellungen der Hannah Arendt
„Es gibt viele Wege, die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu lesen; aber es gibt keinen Weg, diese Geschichte zu lesen, ohne Hannah Arendt gelesen zu haben.“
Idith Zertal *
Shy Abady ist von der Gestalt der Hannah Arendt fasziniert – er zeigt an ihr nicht nur das Interesse eines Malers für ihre einmaligen intelligenten und ausdrucksvollen Gesichtszüge, die ihm erlauben, mit dem Pinsel die Schritte ihres ganzen Lebens, ihr Heranreifen und Erwachsenwerden, nachzuvollziehen, sondern ist auch als Israeli und Jude an ihr interessiert. Er reagiert mit aufgeweckten Sinnen auf ihren Intellekt und den skeptischen Instinkt, der Hannah Arendt ständig und immer noch umgibt und der der Antrieb hinter ihrer Weisheit und ihrem Dasein als Frau war.
Als ein Mensch, der immer die Quellen für drohende Gefahren erkannt hat, der nie blind irgendeiner Art von Mythos gefolgt ist und auch die Gefahren der Siege und der Macht erkannt hat, symbolisiert und verkörpert Hannah Arendt die geschärften Sinne eines Einwanderers – und auch die ständige Wachsamkeit der Immigranten, was herannahende Katastrophen angeht.
Als israelischer Maler ist sich Shy Abady sehr wohl der Tatsache bewusst, dass er durch seine Gemälde einer Frau nahe steht, deren politische Ansichten, Ideen und philosophischen Erfahrungen von der israelischen Gesellschaft abgelehnt und verworfen wurden, da sie sich weigerte, die absolute Rechtfertigung des neuen jüdischen Staates und den damit verbundenen Anspruch anzuerkennen, sich als Opfer zu verewigen.
Shy Abady wird dementsprechend nicht nur vom vielschichtigen und schwer fassbaren Porträt einer Frau inspiriert, die man zwar nicht im herkömmlichen Sinne als schön, dennoch als ausgesprochen charmant und bezaubernd bezeichnen kann, sondern auch von ihrer ausgeprägten Liebe zur Genauigkeit, ihrem Scharfsinn, ihrer Originalität und ihrer persönlichen Integrität.
Abady wird von ihr als eine von seiner eigenen Kultur abgelehnten Persönlichkeit inspiriert und stellt somit das Zentrum der Untergrabung des hergebrachten und akzeptierten Wertesystems dar. Somit ist sein Blick auf sie, der Blick eines jungen Mannes, der eine Frau im Alter seiner Großmutter beobachtet und ihr Leben von der Jugend bis ins hohe Alter verfolgt, auch gleichzeitig ein Blick, der versucht, ihre spirituelle Wachsamkeit hinter ihren Gesichtszügen zu finden: gedankenvoll, lächelnd, rauchend, ernsthaft – Hannah Arendt wird aus israelischer Sicht immer die jüdische Frau „von dort“ symbolisieren – eine Frau aus der Diaspora, die den intellektuellen Standpunkt des Archimedes verinnerlicht hat, der in der israelischen Denkweise zurückgewiesen wurde. Arendt steht nicht nur für das politische und kritische Denken des 20. Jahrhunderts und insbesondere die damit verbundene Kritik am Totalitarismus, sondern auch für den Glauben an eine kosmopolitische jüdische Option, die durch den Zionismus abgelehnt und negiert wird.
Ebenso wie Walter Benjamin wurde sie als Bürgerin einer Weltkultur geboren und blieb es auch bis zu ihrem Tode. Der zionistische Prozess hat sie nicht daran hindern können, und sie hat sich stets geweigert, sich den politischen und emotionalen Diktaten zu ergeben.
Als Maler nähert sich Shy Abady dem Antlitz der Arendt mit verschiedenen Techniken und Stilrichtungen – er ist sich wohl bewusst, dass ihre Persönlichkeit nicht durch einen einzigen Stil wiedergegeben werden kann. Sein Ziel ist es nicht, sie in einem offiziellen Porträt zu verewigen. Er versucht viel eher, ihre zahlreichen verschiedenen Gesichter und ihre schwer fassbare und suggestive Komplexität einzufangen. Ihr skizziertes Gesicht schwebt förmlich in einem breiten figurativen Raum, und lässt eine Leere hinter sich. Abady zeigt sie nicht von schweren Möbeln umgeben, er erzeugt keinerlei definierten Raum für sie – sei er häuslicher, spiritueller oder anderer Natur. Er bevorzugt stattdessen, immer wieder den Fokus neu aufzubauen – die Augen, der Blick, die Mundwinkel, Zigarettenrauch: eine denkende Persönlichkeit, die nicht an einem spezifischen Ort verankert ist oder in eine stabile bürgerliche Einrichtung passt. Abadys Gemälde und Zeichnungen zeigen die Person der Hannah Arendt ohne jede spezifische oder identifizierbare Ortsangabe.
Stattdessen fügt Abady eine Reihe von Gegenständen hinzu, die sich an Seite ihres Porträts vergegenwärtigen: Zigarettenstummel, ein Kaktus, Pistolenkugeln, ein königliches Symbol – Fragen über die europäische Vergangenheit und die israelische Zukunft, über das Neue und die Tradition, über das Persönliche und das Universelle.
Bieten diese Bilder eine intime Darstellung der Hannah Arendt? Es scheint, als würde sie aus den Rahmen entweichen. Sie ist als Kind dargestellt, das die Hand der Mutter hält, als junges Mädchen am Beginn ihres Lebensweges, als Frau in den besten Jahren und als eine gereifte, ältere Dame, die sich dem Ende des Lebens nähert – aber in allen diesen Portraits wird sie stets am gleichen Punkt exponiert – der Punkt, an dem sie sich dem offiziellen Portrait ewig verschließt, und ihr geneigter Blick zeigt, dass sie die Situation immer aufs Neue prüft und bewertet.
Der elektrische Stift, ein technisches Gerät, das Abady für seine Zeichnungen der Arendt-Portraits gewählt hat, ist ein scharfes und genaues Werkzeug – härter als ein Bleistift, schärfer als ein Pinsel. Er brennt die Linien auf eine hölzerne Oberfläche, um eine trockene und eindringliche Zeichnung zu erlangen. Durch sein zeichnerisches Können gelingt es Abady, seine Themen durch schnelle, präzise, jedoch nicht sentimentale oder kitschige Linien zu vertiefen und zu bereichern. Abadys Zeichnungen weichen nicht ab, er lässt sich nie zu übermäßiger Sinnlichkeit verführen. An den Rändern öffnet er sich für ein stufenweises „Sfumato“ und zeigt auch dadurch, wie vollendet er seine Technik beherrscht.
Die beiden Ölbilder auf Leinwand erzeugen dagegen ein Gefühl von Fülle und Übersättigung im Hinblick auf den exakten Charakter der Hannah Arendt, die sich offenkundig in einer Welt voller Farben und Überfluss weniger wohl fühlt.