Shy Abady arbeitet mit eindringlicher Schärfe auf die historische Dimension zu und prägt seine Kunst unter Bezugnahme auf die Geschichte. Diese Haltung veranlasst ihn zu einem Dialog mit der großen Tradition der Historienmalerei.
Die Renaissance-Ära gebar das Genre der Historienmalerei – Gemälde epischer Ausmaße, die dramatische religiöse oder mythologische Szenen darstellen, Visionen von Schlachtfeldern voller Charaktere und Dramen. Das Thema definiert – mehr noch als der Stil – das historische Gemälde und zielt darauf ab, dem Betrachter auf die eine oder andere Weise eine Botschaft zu vermitteln. Geschichte wird hier nicht nur als Bericht einer epischen Vergangenheit, sondern auch als literarische Erzählung, als Lebensgeschichte betrachtet. In der westlichen Kunst erhielt die Historienmalerei – zumindest bis ins neunzehnte Jahrhundert – äußerste Bedeutung in der Hierarchie der bildenden Kunst und musste oft dem Vergleich mit der epischen Literatur standhalten, die ihrerseits als literarisches Genre der Mythen die Kulturen formte. Mit dem Aufstieg des Modernismus jedoch und seiner Wahrnehmung der Kunst als autonomen Bereich verlor im Laufe des letzten Jahrhunderts der Status der Historienmalerei stark an Gewicht, und heute gilt sie als veraltet und rein akademisch.
Trotz alledem nimmt Shy Abady ein Wagnis auf sich, wenn er seine Arbeit auf diese traditionelle Kunstform gründet und gleichzeitig deren Regeln missachtet, um interne Varianten zu erstellen. Zwar bleibt er dem Genre treu, wenn er seine gravierten Gemälde um eine historische Figur oder Szene webt, welche die Moral der Geschichte darstellen, und damit eine bestimmte Botschaft vermittelt, gibt er doch gleichzeitig das wichtigste Merkmal der traditionellen Historienmalerei auf – ihre Fülle von Abbildungen, Details und Handlungssträngen. Im Gegensatz zu Anselm Kiefer, der die monumentale Wahrnehmung der Historienmalerei adaptierte und sie in eine vom Instinkt gekennzeichnete, mit Substanz gefüllte Erfahrung verwandelte, schafft Abady eine intime Dimension, die völlig frei ist von der klassischen Form des Genres und versucht, durch das Individuum und das Persönliche mit einer belasteten und dunklen Vergangenheit in Berührung zu kommen.
Nur eine einzige Figur erscheint in jedem der Gemälde von Abady, als der alleinige Fokus der visuellen Aufmerksamkeit. Der Ballett-Tänzer und Choreograph Vaclav Nijinsky, die politische Theoretikerin Hannah Arendt und der israelisch-rumänische Dichter Radu Klapper dienten als Ausgangspunkt für drei solcher Serien von gebrannten Zeichnungen, geschaffen aus gepressten Sägespänen und Sperrholz. Abady rotiert um die Figuren in verschiedenen Epochen ihres Lebens, studiert ihre Merkmale und Körpersprache, und statt sich auf ihre Beziehungen zur Welt zu konzentrieren – wie es die historische Malerei diktiert – bietet er einen persönliches und intimes Porträt.
Abadys Interesse an deutscher Geschichte, und besonders an der preußischen Monarchie, wurde im Verlauf eines längeren Aufenthalts in Berlin (2007 – 2008) geweckt, während der Arbeit an seiner früheren Serie "Mein Anderes Deutschland". Geboren und aufgewachsen in Jerusalem und ausgebildet im Sinne eines asketischen Konzepts der Ethik des Modernismus, unterstützt von einheimischen religiösen und ikonoklastischen Tabus, wurde Abady durch seine Entdeckung der reichen, monumentalen preußischen Kultur ebenso fasziniert wie abgestoßen. Seine direkte Begegnung mit der neoklassizistischen Bildhauerei erregte neben einer Abscheu vor ihrer inhärenten deutschen Prägung auch sein künstlerisches Interesse. Abady unternahm eine persönliche Reise von "Jerusalem nach Berlin", wobei er nicht nur einmal, sondern gleich zweimal die Uhr zurückdrehte – nicht direkt zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, was sich für jeden Israeli in Berlin so verlockend anbietet, sondern eher in die noch davor nachklingende historische Periode, die der Zeit des Nationalsozialismus (und auch der Weimarer Republik) vorausging – die Ära der preußischen Monarchie, die sich nach dem Ersten Weltkrieg dem Ende zuneigte. Abady beobachtete die hochstilisierte Welt der Monarchie des neunzehnten Jahrhunderts, die in seinen Augen fast wie ein Märchen erschien.
Aus eigenen Kräften machte er sich mit den kaiserlichen Traditionen vertraut, mit der Macht materiellen Reichtums, mit der preußischen Dynastie der Hohenzollern und ihren Palästen und Burgen, mit dem klassischen Europa und dessen absolutem Selbstbewusstsein, ein Europa, das sich den eigenen, nahe bevorstehenden Niedergang nicht vorzustellen vermochte. Aus diesem enormen Überfluss greift Abady Persönlichkeiten der deutschen und christlichen Mythologie heraus (die Loreley, die Synagoga und andere) und ruft sie als Metaphern, die sich der Katastrophe nähern, zurück aus dem Reich der Toten.
Sie alle werden von Abady auf eine andere Ebene transportiert – monochrom, düster und geschwärzt, auf dem Hintergrund einer gelblichen Oberfläche aus Sägemehl. Abady entwickelte eine spezielle Technik mit elektrischer Nadel, um auf billige, einfache Sperrholzplatten zu brennen, die er in Deutschland fand – OSB genannt. Mit dieser Technik strebt er danach, Aussagen über eine Kultur zu machen, die sich in Luft aufgelöst hat und nur ein Brandmal hinterließ. Die billigen Sperrholzplatten spiegeln die Gezeiten der Geschichte wie Narben auf der Haut wider, ins Gedächtnis eingraviert.
Die Serie "Auguste Victoria" geht tiefer auf historische Biographien und Figuren ein und rückt damit näher an die jüdische Geschichte heran. Im Mittelpunkt steht die Geschichte zweier Familien, die um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert lebten, und deren Wege sich anlässlich eines historischen Schlüsselereignisses kreuzten: die Dynastie der letzten preußische Kaiserin Auguste Victoria aus dem Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, und die jüdische Familie Herzl aus Wien. Ihre Begegnung - der flüchtige, unsichere Moment, in dem Theodor Herzl sich Kaiser Wilhelm II, dem Ehemann Auguste Victorias, näherte und energisch auf das Recht des jüdischen Volkes zur Rückkehr in seine Heimat pochte - wird von Abady vollständig zerlegt, wobei er nur verstreute Fragmente und Standpunkte übrig lässt.
Abady portraitiert die einsame Gestalt Theodor Herzls, seinen Hut haltend, Wilhelms unbemanntes Pferd und das Baudenkmal, das der historische Besuch des kaiserlichen Paares im Heiligen Land hinterließ: die Auguste Victoria-Kirche auf dem Ölberg in Jerusalem. Abady hält sich in diesem kurzen, kritischen Moment der deutsch-jüdischen Geschichte auf, die das Potential besessen hatte, die Geschichte in völlig andere Bahnen zu lenken und die Zukunft des israelisch-palästinensischen Gebietes neu zu definieren.
Von diesem Zeitpunkt an ist Abadys Arbeit mit einer Versammlung von Charakteren bevölkert, deren Verhältnis zueinander rein metaphorisch ist. Er bezieht sich auf diese mit ihren Vornamen: Hans, Joachim, Victoria-Luise, und versucht die Diskussion ihrer persönlichen Tragödien oder des Fluches, der beide Familien belastete - die jüdische wie auch die kaiserliche. Beide erlebten frühen Tod, Wahnsinn, Selbstmord und inneren Zerfall.
Aus der Perspektive der israelischen Kunst kehrt Abady auf den Ausgangspunkt zurück, in die Zeit, in der die traditionellen Künstler der Bezalel-Kunstakademie Porträts des verehrten Staatsgründers zeichneten und Herzls würdige und inspirierende Silhouette dem kollektiven Erinnerungsvermögen einprägten. In der israelischen Kunst wird die Figur Herzls seit vielen Jahren nicht mehr als Teil des zeitgenössischen künstlerischen Diskurses betrachtet. Abadys Darstellung wirft ein ganz anderes Licht auf den Vater der Nation, der nun als Privatperson erscheint, die Beziehungen zur Verwandtschaft, die Vaterschaft, Lust und Liebe verfolgt. Abady versucht, den schrecklichen Preis anzudeuten, den diejenigen zahlen, die sich zu nahe an das Feuer der großen ideale und Visionen heranwagen und verbrennen.
Unter anderem erweckt er von den Toten das wenig bekannte Portrait von Hans, des jüngsten Sohnes von Theodor Herzl, der sich nach zahlreichen persönlichen Entbehrungen das Leben nahm. Die aufeinander folgenden Tragödien in Theodor Herzls Familie, darunter auch die psychische Erkrankung seiner Frau Julia, der Selbstmord zweier seiner drei Kinder, und der Tod seiner dritten Tochter in einem Todeslager während des zweiten Weltkriegs ist eine Geschichte, die seit vielen Jahren von denjenigen verschwiegen wurde, die den Vater der Nation als stolzen und furchtlosen Juden darstellen wollten.
Abadys metaphorische Verwendung der preußischen kaiserlichen Familie bietet erneut Hinweise auf den Versuch, eine historische Geschichte epischen Ausmaßes mit persönlichen Beziehungen und Tragödien zu verbinden. Auch Joachim, der jüngste Sohn von Victoria-Auguste und Wilhelm II., nahm sich das Leben, während seine Mutter, die Kaiserin, nach dem Zusammenbruch ihres Reichs an gebrochenem Herzen im Exil in der Fremde starb. Während " Mein Anderes Deutschland" durch die Gassen Berlins schlenderte und zerbrochene Fragmente von Statuen und Berliner Monumenten zu Tage förderte, beschwört "Auguste Victoria" die Landschaft Jerusalems vor hundert Jahren herauf und starrt auf ihre öde Leere.
Das "Auguste Victoria-Gebäude" erscheint als ein einsamer Ort, dessen höchster Turm sich in eine leere Skyline aufschwingt. Als Jerusalemer, eingeweiht in die historischen und mystischen Stätten der Stadt, beobachtet Abady die Stelle, an der Jerusalem sich der Wüste zum Kuss bietet, die Schnittstelle, an der die zivilisierte und bewohnte Welt auf das Unheimliche und Karge trifft. Der Gebäudekomplex, der in seinen frühen Tagen christlichen Pilgern als Unterkunft gedient hatte, verwandelte sich später in ein palästinensisches Krankenhaus und war während des israelischen Unabhängigkeitskrieges Mittelpunkt einer Schlacht, die zahlreiche Opfern forderte. Mit der Geschichte des Gebäudes stellt Abady einen komplexen, beunruhigenden Fetzen Historie vor. Er hinterfragt nicht nur Dinge, die stattgefunden haben, sondern auch solche, die hätten sein können, als ob die Vergangenheit sich in der Gegenwart wiederhole.
"Auguste Victoria" findet den Abschluss mit einer Arbeit namens "The End", wie die letzte Aufnahme eines Films. Ende in Abadys Arbeit bedeutet den Moment, in dem sich alles schließlich in einer einzigen eingebrannten Zeile komprimiert: ein innerer Nebel sich zusammenbrauender schwarzer Wolken. Die Entscheidung, diese Serie, die Materialien einer belasteten deutschen und jüdischen Geschichte verschmelzt, mit einer derartigen, gleichzeitig konkreten und abstrakten Geste abzuschließen, kann als Versuch verstanden werden, die unzähligen Schicksale der Menschheit in einer einzigen verätzten Brandwunde mit apokalyptischer Spannung darzustellen.